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"Emotionsregulation in der frühen Kindheit – neurobiologische Grundlagen und die zentrale Rolle von Eltern und Bezugspersonen"

  • Autorenbild: Alexa Niedermann
    Alexa Niedermann
  • 1. Aug.
  • 3 Min. Lesezeit

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Die Fähigkeit zur Emotionsregulation zählt zu den zentralen Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit. Kinder verfügen in dieser Phase noch nicht über ausgereifte neuronale Netzwerke zur eigenständigen Steuerung intensiver Affekte. Der präfrontale Kortex, zuständig für Impulskontrolle, Emotionsmodulation und Handlungsplanung, reift über viele Jahre hinweg. In dieser vulnerablen Phase ist das Kind auf die Unterstützung durch konstant verfügbare, feinfühlige und innerlich regulierte Bezugspersonen angewiesen. Hierbei kommt insbesondere Eltern, aber auch anderen konstanten Betreuungspersonen, eine zentrale Bedeutung zu: Sie bilden in der frühen Entwicklung das primäre externe Regulationssystem und prägen damit die spätere Fähigkeit des Kindes zur autonomen Selbstregulation.

 

Feinfühligkeit, also die präzise Wahrnehmung, richtige Interpretation und angemessene Reaktion auf kindliche Signale, gilt als einer der wirksamsten Schutzfaktoren für die psychische Entwicklung. Eltern und andere Bezugspersonen, die emotional präsent und körperlich abgestimmt auf das Kind eingehen, ermöglichen eine stabile emotionale Grundregulation. Diese Coregulation erfolgt nicht primär über Sprache, sondern über physische Nähe, Stimmklang, Blickkontakt, Atemrhythmus und Muskelspannung. Sie wirkt unmittelbar auf das autonome Nervensystem des Kindes und unterstützt damit die funktionelle Reifung zentraler neuronaler Verschaltungen. Besonders bedeutsam ist der Einfluss elterlicher und bezugspersonaler Regulation im Umgang mit kindlichem Stress. Die Amygdala als Teil des limbischen Systems reagiert früh auf Bedrohung und aktiviert die Hypothalamus Hypophysen Nebennierenrinden Achse. Die daraus resultierende Ausschüttung von Glukokortikoiden wie Cortisol steigert kurzfristig die Vigilanz, beeinträchtigt jedoch bei chronischer Aktivierung die neuronale Plastizität, insbesondere im Hippocampus, was sich negativ auf Gedächtnisbildung, Emotionsverarbeitung und Stressbewältigung auswirken kann. Bezugspersonen, die frühzeitig stabilisierend, strukturierend und regulierend auf das Kind einwirken, können diese biologischen Stressreaktionen effektiv abschwächen.

 

Die Polyvagaltheorie von Stephen Porges ergänzt das klassische Modell autonomer Stressantworten um den ventrovagalen Komplex. Dieser phylogenetisch jüngste Teil des Parasympathikus, vermittelt über den ventralen Vagusnerv, ist bei erlebter Sicherheit aktiv und begünstigt soziale Offenheit, Nähe und affektive Beruhigung. Eltern und andere Bezugsper- sonen, die durch ihre eigene körperliche und emotionale Regulation Sicherheit vermitteln, fördern diesen Pfad beim Kind und legen damit die neurobiologische Grundlage für Bindungsfähigkeit und soziales Lernen. Im Gegensatz dazu kann ein Mangel an affektiver Resonanz, emotionale Inkonsistenz oder chronische Überforderung bei den Bezugspersonen zu einer anhaltenden Aktivierung des Sympathikus führen, mit langfristigen Konsequenzen für die emotionale Regulation und soziale Integration des Kindes.

 

Ein weiterer zentraler Mechanismus ist die Neurozeption, das unbewusste Erfassen, ob eine Situation als sicher oder bedrohlich erlebt wird. Bereits im Säuglingsalter reagieren Kinder auf feinste nonverbale Signale ihrer Umgebung. Das kindliche Nervensystem orientiert sich dabei primär an der somatischen Verfasstheit der Eltern oder anderen Bezugspersonen. Stimmqualität, Mimik, Atemfrequenz und Muskelspannung werden unbewusst und schnell verarbeitet und wirken regulierend oder aktivierend auf das autonome System des Kindes. Die Fähigkeit der Bezugsperson zur Selbstregulation ist daher essenziell, da sie unmittelbar das kindliche Erregungsniveau mitbestimmt.

 

Über die physiologische Ebene hinaus ist auch die mentale Haltung der Bezugspersonen von entscheidender Bedeutung. Die sogenannte Mentalisierungsfähigkeit beschreibt die Kompetenz, innere Zustände des Kindes als subjektiv bedeutsam wahrzunehmen, emotional zu verstehen und nicht zu bewerten oder zu korrigieren. Eine elterliche Haltung, die das Verhalten des Kindes empathisch deutet und emotional validiert, stärkt die Entwicklung eines kohärenten Selbstbildes, unterstützt die Emotionsverarbeitung und bildet die Basis für eine sichere Bindung. Fehlen diese Kompetenzen, etwa durch funktionale Übersteuerung, emotionale Abwesenheit oder chronische Überforderung der Bezugsperson, kann dies zu dysfunktionalen Regulationsmustern führen. Kinder erleben sich in solchen Konstellationen häufig als unbeachtet oder unverstanden, was Rückzugsverhalten, übersteigerte emotionale Reaktionen oder eine chronisch erhöhte physiologische Anspannung zur Folge haben kann. Besonders vulnerable Kinder entwickeln unter diesen Bedingungen keine stabilen inneren Repräsentanzen für Selbstberuhigung, Affektintegration und soziale Anschlussfähigkeit.

 

Emotionsregulation ist somit kein isoliertes Reifungsergebnis, sondern ein komplexer, neurobiologisch fundierter Prozess, der in den frühen Beziehungen verankert ist. Eltern und andere zentrale Bezugspersonen tragen massgeblich zur Entwicklung dieser Fähigkeiten bei, indem sie affektive Zustände spiegeln, benennen, regulierend begleiten und über ihre eigene psychophysiologische Stabilität das kindliche Nervensystem beruhigen. Zahlreiche entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Studien belegen, dass diese frühen Beziehungserfahrungen die Basis bilden für psychische Stabilität, Resilienz und soziale Kompetenzen im weiteren Lebensverlauf.

 

Literaturhinweise


  • Bowlby J. (1982).Attachment and Loss Vol 1. New York: Basic Books

  • Porges S. W. (2017).Die Polyvagaltheorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Pader- born: Junfermann

  • Perry B. D. & Szalavitz M. (2021).What Happened to You? Conversations on Trauma Resilience and Healing. New York: Flatiron Books

  • Dozier M., Peloso E., Lewis E., Laurenceau J. P. & Levine S. (2008). Effects of an Attachment Based Intervention on the Cortisol Production of Infants and Toddlers in Foster Care.Development and Psychopathology 20(3), 845–859

 

Autorin

Alexa Niedermann MA, MAS Systemische Einzel-, Familien- und Paartherapeutin in eigener Praxis. Systemische Supervisorin & Dozentin mit langjähriger Erfahrung im Bereich Bildung, Gesundheit und Sozialem. www.praxis-sbt.ch

 

Alexa Niedermann MA, MAS



 
 
 

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